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Online-Magazin von mfe Haus- und Kinderärzte Schweiz

Lesedauer ca. 7 Min.

Das Gesundheitswesen im Schleudersitz

Sicherstellung der Grundversorgung gefährdet

Das Gesundheitswesen im Schleudersitz

Ein Interview mit Dr. med. Heidi Zinggeler Fuhrer, Vize-Präsidentin und Co-Leiterin Kommission Tarife mfe sowie Kinderärztin in Chur

Frau Dr. Zinggeler Fuhrer, sie arbeiten als Kinderärztin und verrechnen die von Ihnen erbrachten Leistungen über den Tarif Tarmed. Inwiefern ist er veraltet?

HZ: In der kinder- und hausärztlichen Praxis kommt nur ein Bruchteil der vorhandenen Tarifpositionen zur Anwendung. Wichtig für uns ist, dass wir die erbrachten Leistungen korrekt abrechnen können und zwar so, dass es sowohl der Patient wie auch der Versicherer verstehen. Der Tarif muss unsere Arbeit abbilden und darf sie nicht behindern. Der in die Jahre gekommene Tarmed kennt zum Beispiel keine Positionen für von uns so häufig erbrachte Leistungen wie Prüfung des Gehörs, Prüfung der Sehschärfe, kurze Untersuchung kranker Kinder, und so weiter.

Immer wieder zur Diskussion stehen die Limitationen von Leistungen.

HZ: Gewisse Limitationen bestehen zu Recht. Unverständlich ist aber zum Beispiel die Limitation der Konsultationszeit auf 20 Minuten. Kommt doch im Alltag das Hauptproblem seitens der Patienten oft erst im Verlaufe des Gespräches nach 15 Minuten auf den Tisch. Bei den meisten Fragestellungen mag dieses Zeitkorsett genügen, bei schwierigen Fragestellungen ist das aber klar zu wenig. Die Limitation verhindert hier eine gute Patientenbetreuung mit der Gefahr, dass das Ganze am Ende teurer wird als wenn man sich am Anfang genug Zeit genommen hätte. Zusammen mit den Versicherern Curafutura und MTK haben wir bei der Tarifrevision mit Tardoc Wege gefunden, um auch in komplexen Situationen eine adäquate Behandlung sicherstellen zu können.

Der Bundesrat fordert eine Vereinfachung des Tarifs.

HZ: Das BAG und die Versicherer wollen aber auch möglichst detaillierte Angaben, damit sie alles genau kontrollieren können. Beides zusammen geht nicht. Es muss eine Wahl getroffen werden. Mit Tardoc würde die Anzahl der Tarifpositionen im Vergleich zu Tarmed fast halbiert. Auch das spricht für Tardoc.

Es ist bekannt, dass es einerseits zu hoch und anderseits zu niedrig tarifierte Leistungen gibt.

HZ: Genau solche Fehler im Tarif, die zum Teil von Anfang an bestanden, zum Teil der technischen Entwicklung geschuldet sind, werden durch Tardoc korrigiert. In den 30 Jahren seit den Berechnungen für Tarmed sind viele Positionen wegen des technischen Fortschritts günstiger geworden, anderes kostet mehr, wie die Praxismieten oder Löhne von Angestellten.

Das zu korrigieren, war der Auftrag des Bundesrates. Und das ist den Tarifpartnern trotz verschiedener Interessen nach langen und zähen Verhandlungen gelungen. Gerade deshalb ist die Rückweisung durch den Bundesrat eine Ohrfeige für die kooperationswilligen Partner.

Als Vorstandsmitglied bei Haus- und Kinderärzte Schweiz und als Co-Leiterin der Tarifkommission waren Sie über Jahre stark in der Tarifrevision involviert.

HZ: Ich habe zusammen mit den anderen Beteiligten sehr viel Energie und Zeit in das Projekt Tardoc investiert. Es hat unsere Berufsverbände und die Partner auf Seiten der Versicherer übrigens auch sehr viel Geld gekostet. Andere haben die Kooperation derweil von Anfang an einfach verweigert, allen voran Santésuisse. Dass der Bundesrat ausgerechnet ihnen den roten Teppich ausrollt, ist mehr als ärgerlich und strapaziert meinen Willen zur Weiterarbeit.

Vor allem auch deshalb, weil der Bundesrat im laufenden Prozess unverhofft mehrmals die Spielregeln geändert hat, uns zur Weiterarbeit drängte und uns kooperativen Tarifpartnern jetzt die Verweigerer ins Boot setzt. Es ist doch offensichtlich, dass er damit rechnet, dass wir an dieser Aufgabe scheitern. Via libera für ihn, uns den Tardoc aus den Händen zu nehmen, die Tarifautonomie zu begraben und uns dafür auch noch wie die Schuldigen aussehen zu lassen. Das ist doch ein falsches Spiel.

Der Bundesrat setzt auf Pauschalen.

HZ: Wir wissen längst wo Pauschalen funktionieren können und wo nicht.  In der Haus- und Kinderarztmedizin funktionieren sie nicht, da sind wir uns auch mit den Versicherern einig, zu unterschiedlich sind die Fragestellungen in der haus- und kinderärztlichen Praxis und die Bedürfnisse der Patienten. Wenn sich die Tarifpartner auf Pauschalen einigen können, so ist gegen solche nichts einzuwenden. Dass die Diskussion um Pauschalen, die noch in den Kinderschuhen stecken und nur einen kleinen Teil des Leistungsspektrums abdecken können, die Einführung von Tardoc verhindert oder zumindest hinauszögert, ist inakzeptabel und offensichtliches Störmanöver der Verweigerer.

Der Bundesrat bemängelt, dass seine Empfehlungen nicht berücksichtigt wurden.

HZ: Selbstverständlich wurden alle Empfehlungen genauestens geprüft. Einige wurden berücksichtigt, andere mussten zurückgewiesen werden. So ist sein Vorschlag, den für die Tarifberechnungen hinterlegten Arztlohn, der seit 1995 nie angepasst wurde, um 10% zu kürzen und gleichzeitig die hinterlegte Arbeitszeit auch noch um zwei Stunden pro Tag zu verlängern schlicht inakzeptabel. Das wusste der Bundesrat ganz genau. Welche Berufsgattung muss sich solche Vorschläge erst gefallen lassen?!

Sie sind wütend?

HZ: Konsterniert und enttäuscht. Einmal mehr wird der Tarif, der gemäss KVG sachgerecht und betriebswirtschaftlich sein muss, für eine Sparrunde missbraucht. Man fragt sich schon, ob dem Bundesrat und dem Gesetzgeber eigentlich klar ist, wie hier mit gesetzlichen Vorgaben umgegangen wird. Einmal mehr werden das in erster Linie die Haus- und Kinderärzte ausbaden müssen. Offenbar ist sich die Politik nicht bewusst, was für Signale sie damit aussendet. Die Studierenden und junge Ärztinnen und Ärzte schauen genau, was hier geht, und sie werden sich gut überlegen, ob sie unter solchen Rahmenbedingungen den Schritt in die medizinische Grundversorgung wagen wollen. Die jahrelangen Bemühungen um mehr haus- und kinderärztlichen Nachwuchs werden mit einem Federstrich und politischen Ränkespielen untergraben. Ja, das macht mich fassungslos und wütend.

Wie geht es nun weiter?

HZ: Der Bundesrat hat die Verweigerer dazu aufgefordert, sich endlich mit den Tarifpartnern an den Tisch zu setzen. Wenn allen, inklusive Bundesrat, angeblich so sehr an einem korrekten Tarif und an der Tarifautonomie, wie sie übrigens vom KVG vorgeschrieben wird, gelegen ist, muss es nun schnell vorwärts gehen. Sonst ist Tardoc bei der Einführung längst veraltet. Tardoc kann gepflegt und laufend angepasst werden, dafür ist gesorgt, und er gehört in die Hände der Tarifpartner. Nichts führt an Tardoc vorbei. Wir werden uns nun mit allen, die das wollen, hinsetzen und konstruktiv nach Lösungen suchen. Wenn der Bundesrat andere Absichten hat, dann soll er sie jetzt auf den Tisch legen und dafür die politische Verantwortung übernehmen. Alles andere ist, genauso wie die fadenscheinige Argumentation gegen Tardoc, einfach unredlich.

Wissen Sie, ich liebe meinen Beruf und habe ihn ergriffen, weil ich in jungen Jahren erfahren habe, was es bedeutet, medizinische Hilfe in Anspruch nehmen zu müssen. Ich möchte meine Patienten so betreuen können, wie es nötig, für sie am besten ist und ihren Bedürfnissen entspricht. Mein Engagement geht aber über die eigentliche Berufsausübung hinaus. Ich möchte meinen Nachfolgenden den Weg ebnen, dazu gehört auch, mich für gute Rahmenbedingungen und somit auch für einen sachgerechten Tarif einzusetzen.

Was würden Sie Herrn Bundesrat Berset sagen wollen?

Ich würde ihn daran erinnern, dass wir eines der besten Gesundheitssystem der Welt haben und dies nicht vom Himmel gefallen ist, sondern viel zu tun hat mit Vertrauen und mit dem Willen der Tarifpartner zu Verantwortung. Dazu sollte man Sorge tragen. Sonst wird in Zukunft kaum mehr jemand Haus- oder Kinderarzt werden wollen und die Grundversorgung ist gefährdet.

Bundesrat Berset ist grad daran, den Schleudersitzknopf zu drücken und riskiert damit den ungebremsten Absturz und die Zerstörung der patientennahen Gesundheitsversorgung! Die Bevölkerung will eine starke medizinische Grundversorgung, Dazu braucht es einen zeitgemässen Tarif. Und der gehört in die Hände der Tarifpartner! Es braucht Tardoc. Jetzt.