Fokus
Der Hausarztmangel verschärft sich weiter!
Wie steht es wirklich um die Haus- und Kinderarztmedizin in der Schweiz? Die 5. Workforce-Studie liefert ein Update zum Ärzt:innenmangel und zeigt, warum sofortige Massnahmen notwendig sind, um die flächendeckende Grundversorgung zu sichern.
Die 5. Workforce-Studie bestätigt: Der Hausarztmangel ist längst Realität
Die hausärztliche Versorgung gilt als zentrale Säule des Gesundheitssystems. Sie stellt die erste Anlaufstelle für Patient:innen dar, koordiniert Behandlungen und gewährleistet Kontinuität in der medizinischen Betreuung. Die Diskussion um einen Mangel an Haus (HÄ)- und Kinderärzt:innen (KÄ) in der Schweiz ist nicht neu. Seit Jahren gibt es eindeutige, studienbasierte Hinweise auf relevante Engpässe in der Grundversorgung. Doch wie ernst ist die Lage im Jahre 2025 tatsächlich? Einen aktuellen Überblick liefert die 5. Workforce-Studie, die zu Beginn dieses Jahres vom Universitären Zentrum für Hausarztmedizin der Universität Basel schweizweit durchgeführt wurde. Sie erfasst aktuelle Daten von HÄ und KÄ in der Praxis, und ermöglicht damit einen einzigartigen und aktuellen Querschnitt durch die hausärztliche Versorgungslandschaft. Dabei sind alle Kantone in der Erhebung repräsentiert, was der Studie eine hohe Aussagekraft verleiht.
Überalterung und sinkende Gesamtarbeitszeit
Bereits die ersten Ergebnisse verdeutlichen die Notwendigkeit vertiefter Analysen und politischer Diskussionen. Es besteht weiterhin eine Überalterung der Grundversorger:innen. Das Durchschnittsalter der HÄ liegt bei 52 Jahren. Ein wesentlicher Anteil von 12,9 % ist über 65 Jahre alt, hat also bereits das Pensionsalter überschritten und arbeitet weiter. Dasselbe gilt für die KÄ. Das Durchschnittsalter der KÄ beträgt knapp 50 Jahre und auch hier tragen die über 65-Jährigen nennenswert zur Workforce bei (6 %). Ein zentrales Ergebnis der Studie betrifft die Arbeitszeit. Im Durchschnitt leisten HÄ 7,7 Halbtage pro Woche. Diese Zahl ist seit 2020 konstant. Die Gesamtarbeitszeit in Stunden pro Woche hat aber seit 20 Jahren signifikant abgenommen von 50,0h/Woche auf 42,1h/Woche. Bei KÄ hingegen ist zwischen 2020 und 2025 ein geringer Anstieg von 7,4 auf 7,6 Halbtage zu beobachten.
Zudem ist ein geschlechterspezifischer Unterschied erkennbar: Hausärztinnen weisen eine leicht geringere Arbeitszeit auf als ihre männlichen Kollegen, mit einem leichten Anstieg von 6,8 auf 7,1 Halbtage zwischen 2020 und 2025, während die Arbeitszeit der Hausärzte von 8,5 auf 8,3 Halbtage geringfügig zurückgeht. Bei den KÄ zeigt sich ein ähnliches geschlechtsspezifisches Muster.

Die Teilnehmenden wurden in der Studie gefragt, in welchem Alter sie sich pensionieren lassen wollen. Diese Angaben wurden im Sinne einer Hochrechnung mit den FMH-Zahlen der im Jahre 2024 in der Praxis arbeitenden Hausärzt:innen und Praktischen Ärzt:innen (n=7867) [1] und den 2024 ausgestellten Facharzttiteln für allgemeine Innere Medizin (n=624) und Praktische:r Arzt / Ärztin (n=154) [2] aufbereitet. Es zeigt sich, dass bis 2030 insgesamt 22,3 % und bis 2035 40,2 % der aktuell arbeitenden HÄ ersetzt werden müssen und somit bis 2030 die Workforce von rund 400 HÄ-Vollzeitäquivalenten fehlen wird.
Weniger Patient:innenkontakte, mehr Bürokratie
Ebenfalls nimmt auch die Zeit für direkte Patient:innenkontakte über die letzten 20 Jahre stetig und signifikant ab (von 37,2h/Woche auf 31,1h/Woche). Parallel dazu steigt der Anteil an administrativen Aufgaben kontinuierlich und hat vor allem seit 2020 hochsignifikant zugenommen (Graphik 1). Insbesondere regulatorische Vorgaben, Berichterstattung an Versicherungen, das Verordnungswesen wie auch Dokumentation und die digitale Erfassung binden immer mehr Zeit. Das hat direkte Konsequenzen: Für die Arbeit an den und mit den Patient:innen selbst bleibt zunehmend weniger Raum. Diese Verschiebung, insbesondere hin zu administrativen Tätigkeiten, wird von vielen HÄ als Belastung empfunden und steht in einem Spannungsverhältnis zur Kernaufgabe der Grundversorgung.
Stressempfinden und Arbeitszufriedenheit
Die Analysen bezüglich dem subjektiv empfundenen Stresslevel und der Arbeitszufriedenheit zeigen, dass ein höherer Anteil administrativer Tätigkeiten mit einem erhöhten Stressempfinden verbunden ist. Dieser Zusammenhang ist bei HÄ statistisch signifikant nachweisbar und zeigt sich bei KÄ in ähnlicher Tendenz. Gleichzeitig erweist sich die Zufriedenheit mit der eigenen Arbeitssituation als bedeutsamer Schutzfaktor, da sie das Risiko für ein hohes Stressniveau deutlich reduziert. Viele HÄ und KÄ berichten von einer starken Identifikation mit ihrer Aufgabe, einer erstaunlich positiven Arbeitszufriedenheit und einer hohen beruflichen Sinnhaftigkeit. Dieses Ergebnis überrascht angesichts der Belastungen und zeigt, dass die intrinsische Motivation nach wie vor gross ist.
Besonders relevant erscheint ausserdem die Praxisform. Im Jahre 2025 arbeiteten zwei Drittel der HÄ und KÄ in Gruppenpraxen (57,3 %, respektive 60,1 %), die haus- und kinderärztliche Betreuung findet nur noch in etwa 20 % in einer Einzelpraxis statt. Arztpersonen in Gruppen- und Doppelpraxen geben eine signifikant höhere Arbeitszufriedenheit an als in der Einzelpraxis, was auf unterstützende Teamstrukturen, geteilte Verantwortung und eine bessere Verteilung von Aufgaben hindeutet. Auch das Alter spielt eine Rolle. Jüngere Ärzt:innen zeigen tendenziell eine grössere Zufriedenheit, während diese mit zunehmendem Alter abnimmt. Zwischen HÄ und KÄ finden sich grundsätzlich keine relevanten Unterschiede in der Bewertung der Arbeitssituation. Darüber hinaus wird deutlich, dass andere Faktoren wie Geschlecht oder die absolvierte Fortbildungszeit und – etwas erstaunlich – die verfügbaren Ferientage wenig Einfluss auf die Arbeitszufriedenheit haben.
Digitalisierung als Chance – KI noch ohne klaren Nutzen
Auch die Digitalisierung der Arztpraxen ist ein zentrales Thema. Die elektronische Krankengeschichte (eKG), Online-Kommunikation mit Patient:innen und Berufskolleg:innen wie auch der elektronische Austausch zwischen den Praxen und Spitälern sind heute fester Bestandteil des Praxisalltags. Erfreulich ist, dass die eKG bis 2025 sowohl im hausärztlichen wie auch im kinderärztlichen Bereich zum Standard geworden ist. Bei den HÄ arbeiten nur noch 5,4 % (im Vergleich: 2020 waren es noch 9,8 %) ausschließlich auf Papier. Auch bei den KÄ zeigt sich eine klare Dominanz elektronischer KG, wenn auch etwas geringer: 7,7 % (2020: 17,1%) setzen noch komplett auf analoge Prozesse.
Beim elektronischen Patientendossier (EPD) sieht es anders aus: Nur 27,5 % sind bei einer (Stamm-) Gemeinschaft registriert. Drastisch ist: davon nutzen 90,7 % das EPD gar nicht aktiv. Zudem haben 92 % von den Nichtregistrierten nicht vor, sich in nächster Zeit anzumelden. Das EPD findet also wenig Anklang im Praxisalltag. Ausserdem haben nur etwas mehr als ein Viertel der HÄ und KÄ einen direkten Zugriff auf Spitaldaten (26,6 % resp. 28,6 %). Ist ein Zugriff vorhanden, wird dieser etwas überraschend nur von rund 60 % der HÄ und KÄ genutzt.
Künstliche Intelligenz (KI) in der Haus- und Kinderarztpraxis wird von 16 % der HÄ und 8 % der KÄ in ihrer täglichen Arbeit verwendet. Jedoch stimmen sowohl HÄ wie auch KÄ fast zur Hälfte der Aussage zu, dass KI das Potential hat, in der Zukunft die administrative Arbeit zu reduzieren (44,2 % resp. 43,4 %) und die Qualität der Patientenversorgung zu verbessern (49 % resp. 32,4 %). Die Resultate machen deutlich, dass der konkrete Nutzen von KI bislang noch nicht klar quantifizierbar ist. Hier öffnet sich ein Feld, das künftig an Bedeutung gewinnen dürfte. Allerdings ist noch unklar, in welchem Tempo und in welchem Ausmass..
Mangel an Haus- und Kinderärzt:innen ist Realität
Eine Kernfrage, die seit 2010 in allen Workforce-Studien unverändert gestellt wurde, lautete: «Besteht Ihrer Meinung nach ein Mangel Ihrer Berufsgruppe in Ihrer Region?» Diese Einschätzung erlaubt Rückschlüsse sowohl auf die aktuelle Versorgungssituation als auch indirekt auf den erwarteten Zustrom an Nachwuchskräften sowie eine Analyse langfristiger Entwicklungen über die Zeit. Die Ergebnisse sind in Grafik 2 dargestellt.
Im Jahr 2010 lag der Anteil der „Ja“-Antworten in den Schweizer Grossregionen auf einem insgesamt niedrigen und heterogenen Niveau. Während in der Grossregion Espace Mittelland 52 % der Befragten einen Mangel wahrnahmen, bewegten sich die Werte in den anderen Regionen zwischen 36 % und 44 %. Im Tessin gaben lediglich 13 % der HÄ einen Mangel an. Zwischen 2010 und 2015 nahm die Wahrnehmung eines Mangels deutlich zu. In nahezu allen Regionen bestätigte eine Mehrheit Engpässe, zunehmend auch in urbanen und halburbanen Gebieten, die zuvor als weniger betroffen galten. Besonders stark war der Anstieg im Espace Mittelland, wo 75 % der Befragten einen Mangel wahrnehmen. Im Tessin verdoppelte sich der Anteil auf 29 %. Zwischen 2015 und 2020 veränderte sich die Situation kaum. Die Wahrnehmung blieb auf einem ähnlichen Niveau wie 2015. Für 2025 zeichnet sich hingegen ein nahezu flächendeckendes und deutlich verschärftes Bild ab: In fast allen Kantonen berichten mehr als 75 % der HÄ über einen Mangel.

Für die KÄ basieren die Daten über einen wahrgenommenen Mangel nur auf den Erhebungen von 2020 und 2025 und zeigen über diesen Zeitraum hinweg einen klaren Anstieg der Zustimmungswerte. 2025 berichteten die KÄ in nahezu allen Regionen über einen Mangel an Berufskolleg:innen, mit Werten zwischen 74 % und 97 %. Lediglich in den Kantonen Genf, Waadt und Wallis (41 %) sowie im Tessin (19 %) liegen die Werte deutlich unter dem gesamtschweizerischen Durchschnitt.
Die Analyse der letzten 20 Jahre zeigt eine kontinuierliche Verschärfung der Situation: Immer mehr HÄ konstatieren einen Mangel an Berufskolleg:innen. Besonders deutlich zeigt sich dieser Trend in den letzten fünf Jahren. Ein Mangel wird heute schweizweit von mehr als drei Vierteln der HÄ sowie einer Mehrzahl von KÄ als Problem angesehen und birgt somit erhebliche Risiken: Die haus- und kinderärztliche Grundversorgung als erste Anlaufstelle der Bevölkerung ist gefährdet. Die zunehmende Arbeitsbelastung im administrativen Bereich mindert die Attraktivität des Berufsbilds und kann so Nachwuchskräfte abschrecken. Im Jahre 2025 wird von den HÄ und KÄ ein nahezu flächendeckender Mangel wahrgenommen, der Haus- und Kinderärztemangel ist faktisch bereits Realität.
Dem Mangel zügig begegnen
Die fünfte Workforce-Studie zeigt eines deutlich: Die Sicherstellung der Grundversorgung stellt eine der grössten gesundheitspolitischen Herausforderungen der kommenden Jahre dar. So müssen bis 2030 rund 22 % und bis 2035 etwa 40 % der derzeit tätigen Hausärzt:innen ersetzt werden. Insgesamt bestätigt die Studie, dass es sich beim Haus- und Kinderärztemangel um ein strukturelles, landesweites Problem handelt, das sich über zwei Jahrzehnte substanziell verschärft hat.
Ein wesentlicher Ansatzpunkt, um die Attraktivität der Haus- und Kinderarztmedizin zu steigern, ist der Abbau administrativer und regulatorischer Belastungen, die von den Befragten als Haupttreiber für Stress und Arbeitsunzufriedenheit genannt werden. Bürokratie ohne erkennbaren Mehrwert bindet wertvolle Ressourcen und schmälert die Zeit für die eigentliche Patient:innenversorgung.
Gleichzeitig eröffnet die Digitalisierung wichtige Chancen. Der Einsatz von künstlicher Intelligenz, Spracherkennung sowie ein effizienterer Datenaustausch zwischen Spitälern und Praxen können entscheidend zur Entlastung beitragen. Um die Potenziale der Digitalisierung im Gesundheitswesen auszuschöpfen, sind substanzielle Investitionen in moderne IT-Infrastrukturen mit fairer Finanzierung erforderlich. Gleichzeitig müssen datenschutzrechtliche Rahmenbedingungen so weiterentwickelt werden, dass sie den Schutz der Patient:innen gewährleisten, ohne den sinnvollen Einsatz digitaler Lösungen zu behindern.
Darüber hinaus gilt es, den Nachwuchs gezielt zu gewinnen und im Beruf zu halten. Notwendig sind Strategien, um mehr Absolvent:innen für die Grundversorgung zu gewinnen und gleichzeitig vorzeitige Berufsausstiege zu verhindern. Entscheidend hierfür sind attraktive Arbeitsbedingungen, planbare Karrierewege und eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben. Schliesslich ist die Aus- und Weiterbildung konsequent zu stärken. Der Ausbau von Ausbildungskapazitäten sowie eine stärkere praxisorientierte Gestaltung der Lehrinhalte können die Attraktivität des Berufsbildes erhöhen und den Übergang in die Grundversorgung erleichtern.

Fazit
Die Ergebnisse zeigen einen dringenden Handlungsbedarf zur nachhaltigen Sicherung der haus- und kinderärztlichen Versorgung. Dies kann erreicht werden durch ein Bündel an Massnahmen, wie Workforce-Sicherung, Bürokratieabbau, digitale Innovation und Finanzierung, Intensivierung einer gezielten Nachwuchsförderung sowie eine Stärkung und Finanzierung von zusätzlicher Aus- und Weiterbildung. Diese Handlungsfelder sind eng miteinander verknüpft und erfordern koordinierte, langfristig angelegte Strategien. Nur so lässt sich die haus- und kinderärztliche Grundversorgung auch in Zukunft flächendeckend und ohne Qualitätsverlust gewährleisten.
Referenzen:
[1] https://www.fmh.ch/files/pdf32/6.-aerzteschaft-im-praxissektor-nach-hauptfachgebiet-und-geschlecht.pdf, abgerufen 10.09.2025
[2] https://www.bag.admin.ch/dam/de/sd-web/hm0goj1U9sLs/Aerztinnen_und_Aerzte_2024_d.pdf, abgerufen 19.09.2025